57
Ist uns die Liebe angeboren, als natürlicher Teil unserer Menschlichkeit, wie Atmen und Schlafen? Oder ist die Liebe etwas, das wir erst in uns erschaffen müssen?
Mutter Oberin Darwi Odrade,
private Bene-Gesserit-Aufzeichnungen (zensiert)
Weitere zwei Jahre waren an Bord des Nicht-Schiffes vergangen. Paul Atreides hatte nun den Körper eines Zehnjährigen, und sein Geist war mit sämtlichen externen Erinnerungen und Geschichten über sein Vorbild vollgestopft, die im Bibliotheksarchiv verfügbar waren.
An seiner Seite ging Chani, ein zierliches, mageres Mädchen, das zwei Jahre älter war als er. Obwohl sie weit entfernt von der Wüste Arrakis' aufgewachsen war, zeichnete sich der Metabolismus ihres Körpers, der das genetische Erbe ihrer Fremenherkunft in sich trug, durch einen geringen Wasserverbrauch aus. Chani trug ihr dunkelrotes Haar zurückgebunden zu einem Zopf. Ihre braune Haut war glatt, und ihr Mund lächelte schnell, vor allem, wenn sie mit Paul zusammen war.
Ihre Augen wiesen eine natürliche Sepiafarbe auf, nicht das Blau-in-Blau der Gewürzabhängigkeit, das Paul auf jedem historischen Bild einer älteren Chani gesehen hatte, der geliebten Konkubine Muad'dibs und der Mutter seiner Zwillingskinder.
Als sie von einem Deck zum nächsten hinunterstiegen und sich der Triebwerkssektion im Heck des großen Nicht-Schiffes näherten, ließ Paul seine Hand in ihre gleiten. Obwohl sie noch Kinder waren, genoss er die Berührung, und sie zog sich nicht zurück. Ihr ganzes Leben lang hatten sie zusammen gespielt, gemeinsam die Welt erkundet und niemals infrage gestellt, dass sie genauso wie in den alten Geschichten eine enge Beziehung eingehen würden.
»Was fasziniert dich so an den Triebwerken, Usul?«, fragte sie und nannte ihn beim Fremen-Namen, den sie aus ihren eigenen Tagebüchern im Archiv des Schiffes kannte.
Nach einer uralten poetischen Überlieferung hatte der erste Paul Muad'dib Chanis Stimme als »die vollkommene Schönheit des Klanges frischen Wassers, das über Steine perlt« beschrieben. Als er ihr jetzt zuhörte, verstand der neue Paul, wie er einst auf diesen Vergleich gekommen war.
»Die Holtzman-Triebwerke sind so eigenartig und mächtig, und sie können uns an jeden Ort bringen, den wir uns vorstellen können.« Er hob die Hand, um ihr mit einem Finger gegen das kleine spitze Kinn zu tippen, und fügte in verschwörerischem Flüsterton hinzu: »Vielleicht ist der wahre Grund auch der, dass wir in den Maschinenräumen von niemandem beobachtet werden.«
Chanis Stirn legte sich in Falten. »In einem Schiff von dieser Größe gibt es viele Stellen, an denen wir allein sein könnten.«
Paul zuckte die Achseln und lächelte. »Ich habe nicht gesagt, dass es ein besonders guter Grund wäre. Ich hatte einfach nur das Verlangen, dorthin zu gehen.«
Sie betraten die riesige Triebwerkssektion, die unter normalen Umständen nur von vertrauenswürdigen Gildenmännern aufgesucht werden durfte. Doch in diesem Fall wussten Duncan Idaho, Miles Teg und einige Ehrwürdige Mütter genug über den Faltraumantrieb, um für seine reibungslose Funktion sorgen zu können. Zum Glück waren Nicht-Schiffe so exzellent und stabil gebaut, dass es nur wenige ernsthafte Schäden gab, selbst nach so vielen Jahren ohne standardmäßige Wartungsarbeiten. Die Betriebssysteme und Selbstreparaturmechanismen der Ithaka reichten völlig aus, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Je wichtiger ein Bauteil war, desto mehr Wert hatten die Konstrukteure auf Redundanz gelegt.
Dennoch hatten sowohl Teg als auch Duncan ihre Mentatenfähigkeiten benutzt, um sämtliche Spezifikationen des gewaltigen Schiffes zu studieren und sich einzuprägen, um auf jede mögliche Krise vorbereitet zu sein. Paul vermutete, dass auch Thufir Hawat seine Weisheit beitragen würde, sobald er erwachsen und erneut zum Mentaten geworden war.
Nun standen der Junge und das Mädchen in der Halle und waren von wummernden Maschinen umgeben. Obwohl die Nicht-Feld-Projektoren in unterschiedlichen Teilen des Schiffes untergebracht waren, ergänzt durch Wiederholer und Verstärker in der gesamten Hülle, ähnelten diese riesigen Maschinen den Faltraumaggregaten, die in der Zeit von Muad'dib und bereits während Butlers Djihad im Gebrauch gewesen waren. Tio Holtzmans seinerzeit noch recht gefährliche Konstruktionen waren der Schlüssel zum letztlichen Sieg über die Denkmaschinen gewesen.
Paul blickte zur massiven Maschinerie auf und versuchte ein Gespür für ihre treibende mathematische Kraft zu bekommen, obwohl er nichts davon verstand. Chani, die einige Zentimeter kleiner war als er, überraschte ihn, indem sie sich auf Zehenspitzen emporreckte und ihn auf die Wange küsste. Er fuhr lachend zu ihr herum.
Sie sah die Verblüffung in seiner Miene. »Ist es nicht genau das, was ich eigentlich tun sollte? Ich habe alle Dokumente gelesen. Wir sind füreinander bestimmt, nicht wahr?«
Paul wurde wieder ernst, ergriff ihre schmalen Schultern und blickte ihr in die Augen. Dann strich er ihr über die linke Augenbraue und ließ den Finger über die Wange hinabgleiten. Dabei kam er sich sehr unbeholfen vor. »Es ist seltsam, Chani, aber ich spüre ein Kribbeln ...«
»Eher ein Kitzeln! Ich spüre es auch. Eine Erinnerung ganz dicht unter der Oberfläche.«
Er küsste sie auf die Stirn, um mit diesen Empfindungen zu experimentieren. »Proctor Superior Garimi hat uns angewiesen, unsere Geschichte im Archiv nachzulesen, aber all das sind nur Worte. Hier wissen wir nichts davon.« Er tippte sich auf die Brust, in der Nähe seines Herzens. »Wir können niemals genau wissen, wie wir uns beim ersten Mal ineinander verliebt haben. Wir müssen sehr viele Dinge zueinander gesagt haben, die unter uns geblieben sind.«
Ihre Lippen verzogen sich, aber es war eigentlich kein mädchenhafter Schmollmund, sondern eher ein Ausdruck der Besorgnis. Ihre beschleunigte Ausbildung und frühe Reife ließen sie viel älter erscheinen, als sie an Jahren war. »Niemand weiß, wie man sich verliebt, Usul. Erinnerst du dich an die Geschichte? Paul Atreides und seine Mutter waren in großer Gefahr, als sie zu den Fremen stießen. Alle Menschen, die dir etwas bedeutet hatten, waren tot. Du warst völlig verzweifelt.« Sie atmete zitternd ein. »Vielleicht war das der einzige Grund, warum wir uns ineinander verliebt haben.«
Er stand verlegen vor ihr und wusste nicht, was er tun sollte. »Wie kann ich daran glauben, Chani? Aus unserer Liebe wurden Legenden gesponnen. So etwas geschieht nicht zufällig. Ich will nur sagen, wenn wir älter geworden sind und uns wieder ineinander verlieben, dann müssen wir es selbst tun.«
»Glaubst du, dass wir eine zweite Chance bekommen?«
»Wir alle.«
Sie ließ den Kopf hängen. »Die traurigste Geschichte, die ich gelesen habe, war die unseres ersten Kindes, unseres Sohnes Leto.«
Paul war überrascht über den Kloß, der sich plötzlich in seiner Kehle bildete. Er hatte in seinen alten Tagebüchern über ihr Baby gelesen. Er war sehr stolz auf seinen Sohn gewesen, aber sein verfluchtes Vorherwissen hatte ihm gezeigt, dass der erste Leto bei einem Überfall der Harkonnens sterben würde. Dieses arme Kind hatte nie eine Chance gehabt, es hatte nicht einmal lange genug gelebt, um es auf den Namen Leto II. taufen zu können, zu Ehren von Pauls Vater.
Nach den Aufzeichnungen war sein zweiter Sohn – der berüchtigte – bereit gewesen, den dunklen, furchterregenden Weg zu gehen, dem sich Paul verweigert hatte. Hatte Leto II. die richtige Wahl getroffen? Der Gottkaiser des Wüstenplaneten hatte die Menschheit und den Gang der Geschichte nachhaltig und für alle Zeiten verändert.
»Es tut mir leid, dass ich dich traurig gemacht habe, Usul.«
Er trat einen Schritt von ihr zurück. Um sie herum schien der Maschinenraum voller Erwartung zu vibrieren. »Jeder hasst unseren zweiten Leto, weil er zum Monstrum geworden ist. Er hat sehr schlimme Dinge getan, wenn man der Geschichte Glauben schenken kann.« Die erste Chani war bei seiner Geburt gestorben, sodass sie die Zwillinge kaum kennengelernt hatte.
»Vielleicht bekommt auch er eine zweite Chance«, sagte sie. Der Ghola des kleinen Jungen war jetzt fünf Jahre alt und zeigte bereits ungewöhnliche Intelligenz und Begabung.
Paul nahm ihre Hand und küsste sie auf die Wange. Dann verließen sie gemeinsam den Maschinenraum. »Diesmal könnte unser Sohn alles richtig machen.«